Pierre Bonnard
Auf dem Boulevard
1895
Öl auf Karton
35,3 x 35,3 cm
Museum Langmatt, Baden
Inv.-Nr. 102
Die kleinformatige Ansicht einer Pariser Strassenszene erscheint wie ein fotografischer Schnappschuss, wie er heute millionenfach mit Handys geknipst und im Netz verbreitet wird. Eine Momentaufnahme, die ihren Charme von der scheinbaren Zufälligkeit des Zusammentreffens verschiedener Akteure bezieht. Eine Verkäuferin mit Handkarren im Vordergrund, ein Kutschengespann dahinter, links auf dem breiten Gehweg vor einem Geschäft oder Bistro eine undefinierbare Menge an Passanten. Zwei kleine, alte Damen sind offenbar gerade dabei, den Boulevard zu queren. Den stabilen Hintergrund markiert bildparallel und horizontal eine Gebäudefassade mit vorgelagerter Kutsche. Selbst aus der Nähe betrachtet, ist das Gemenge an Personen, Kutschen und Tieren kaum zu entwirren. Bonnard löst das Geschehen in weichen, ineinanderfliessenden Farbflecken auf. Insbesondere die weiter hinten links befindlichen roten, grünen und gelben Akzente verleihen der Szene eine ornamentale, geheimnisvoll glimmende Atmosphäre. In welcher Gemütsverfassung die Passanten den Boulevard entlangströmen, bleibt offen: nervöses Gedränge oder geruhsames Flanieren?
Die Strassenszene ist für Bonnard äusserer Anlass, um ein Verschmelzen und Verwischen der Motive zu erproben, um die Farbe von ihrer traditionellen, gegenstandsbezeichnenden Funktion zu befreien. Nicht die realistische Wiedergabe steht im Zentrum, sondern ganz im Gegenteil die Auflösung von Personen und Objekten sowie deren stete Veränderlichkeit durch das Eigenleben der Farbe. Zwar herrschen Braun- und Grautöne in unterschiedlichsten Valeurs vor, die auf die Stilströmung des Realismus Mitte des 19. Jahrhunderts verweisen, doch die auffallende Unschärfe von Passanten und Tieren, Kutschen und Gebäuden mündet in eine unabgeschlossene Veränderlichkeit. Wie ein Schwarm Schmetterlinge scheinen sie sich tanzend und taumelnd fortzubewegen. Die Figuren haben ihre klaren Konturen verlassen, um sich zu farbigen Flecken zu verflüssigen, die sich bemerkenswerte Freiheiten erlauben und ein Eigenleben führen. Die Verflüssigung – sowohl der festen Form als auch der Konventionen akademischer Darstellung – ist ein Schlüsselbegriff zur Beschreibung von Bonnards Kunst, was in diesem kleinen Format exemplarisch nachvollzogen werden kann. Ausserdem kennzeichnet seine Malerei eine rätselhafte Flüchtigkeit, die jedoch nur auf den ersten Blick als solche erscheint, denn bereits bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass das charakteristische, tagträumerische Eigenleben von Personen und Landschaften gerade darin seine Wurzeln hat. Die Proportionen verschieben sich, und mit ihnen öffnen sich unerwartete Fenster auf eine paradoxe Gleichzeitigkeit von abwesender gegenständlicher Präzision und frappierend präsenter, seelischer Innerlichkeit.
Markus Stegmann in: «Herzkammer», Museum Langmatt 2020