Pierre-Auguste Renoir, Das Boot, um 1878Zurück

Pierre-Auguste Renoir
Das Boot
Um 1878

Öl auf Leinwand
54,5 x 65,5 cm
Museum Langmatt, Baden
Inv.-Nr. 183

 

Ist es möglich, die Natur intensiver in sich aufzunehmen, als in diesem Bild? Wie könnten wir auf solch kleiner Fläche inniger mit ihr verschmelzen? Inmitten des dichten Blattwerks öffnet sich eine überschaubare Wasserfläche mit Boot und Besatzung. Wir wissen nicht, ob der Kahn in sanfter Bewegung ist. Vielleicht verharrt er ebenso reglos wie die sonntäglich weissgekleidete Frau darin, mit merklicher Anspannung sich links und rechts unsicher in ihrer Nussschale abstützend. Nicht zu übersehen jener markante, kahle Ast, der sich quer über fast die gesamte Breite des Bildes spannt, sich vor dem Kopf der Frau in zwei Zweige aufteilt, leicht ansteigt sogar und somit das Schiffchen samt Besatzung kaum sichtbar nach rechts in den Urwald hineinzuschieben scheint. Fast alle anderen Äste und Zweige in diesem Bild – es müssen schon ziemlich viele sein bei dieser Menge an Blättern – bleiben nahezu unsichtbar.

Mit raschen Pinselstrichen fächert Renoir büschelweise Wiesen, Sträucher und Bäume zu einem opulenten, geradezu symphonischen Urwald vor uns auf. Allerorten be- und hinterleuchtet ein allgegenwärtiges Sonnenlicht das Blattwerk und lässt es farbig aufflammen, obwohl – abgesehen von marginalen Partien am oberen Bildrand – weder Himmel noch Sonne auszumachen sind. Die einzelnen Pflanzen treten nicht identifizierbar hinter dem bunt flackernden Vorhang der Natur zurück. Jedes Blatt, jeder Grashalm ist in Bewegung versetzt, raschelt und knistert, zittert und züngelt.

Die überwältigende Grösse dieser Natur, ihre Undurchdringlichkeit, fast möchte man sagen ihre Unendlichkeit, gelangt jedoch erst in der einsamen Person, bezeichnenderweise in die «Nichtfarbe» Weiss gewandet, zu voller Entfaltung. Wäre sie nicht anwesend im Bild, ginge uns der Massstab verloren, das Zentrum des Bildes, vor allem aber die narrative Spannung zwischen dem Einzelnen und der unerschöpflichen Menge des Blattwerks, der Unendlichkeit der Natur. Und es stellt sich die Frage, ob es einen Begleiter oder eine Begleiterin gibt oder gab und falls ja, wohin sie oder er sich verzogen hat, vor allem aber, warum? Soeben ausgestiegen und im Zorn davongestapft? Plötzliche Beziehungskrise am schönen Sonntagnachmittag? Man wollte hinaus in die liebliche Natur, um einander (wieder mal) nah zu sein, und nun das? Vieles lässt sich vermuten, eines ist gewiss: Zivilisation und Natur treffen mehrdeutig und einander sonderbar entfremdet aufeinander. Und zwar eine der Natur bereits reichlich entwöhnte Zivilisation, weshalb zu präzisieren wäre: Ungeeigneter für eine Fahrt in wilder Vegetation könnte die weisse Kleidung kaum gewählt sein, vom Hütchen ganz zu schweigen. Oder wollte man ursprünglich gar nicht so weit fahren, und gelangte tiefer und tiefer in den Urwald hinein, der anfangs ein liebliches Wäldchen war? Auf weiter Flur einsam und allein, kehrte sich das romantische Idyll plötzlich in sein Gegenteil.

Markus Stegmann in: «Herzkammer», Museum Langmatt 2020