Paul Gauguin
Stillleben mit Früchteschale und Zitronen
um 1889/90
Öl auf Leinwand
50 x 60 cm
Museum Langmatt, Baden
Inv.-Nr. 145
Schwan, Gans oder Geist? Welches Wesen hat sich wohl im Schleier des Vorhangs verfangen, ganz am Rande des Bildes und gleichzeitig den stolz leuchtenden Hauptakteuren – Orangen und Zitronen – pointiert gegenübergestellt? Welche Bewegung vollführt das silhouettenhafte Tier, indem es seinen langen Hals um 180 Grad gefährlich krümmt, um seinen Kopf gleich einer Schlaufe auf sich selbst zurückzuführen? Auch wenn viel für eine Gans spricht, einem beliebten Motiv der bretonischen Volkskunst – Gauguin hielt sich zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildes in Le Pouldu in der Bretagne auf –, verleiht das geheimnisvolle Tier dem Stillleben eine gewisse Nachdenklichkeit. Ein banales Alltagstier wird zum heimlichen Antihelden eines Bildes, das auf den ersten Blick nur strahlende Sieger zu kennen scheint: Die Orangen glühen um die Wette, markant verstärkt vom Komplementärkontrast der violetten Tischfläche und geschickt variiert durch die beiden nicht weniger intensiv leuchtenden Zitronen, die dem süssen Geschmackserlebnis das saure gegenüberstellen. Früchte des Südens in der kühlen Bretagne im Nordwesten Frankreichs. Die Exotik muss seinerzeit unvergleichlich wuchtiger erlebt worden sein als sie es heute ist, wo alle Früchte der Welt in der westlichen und zunehmend auch in der östlichen Zivilisation zu jeder Tages- und Jahreszeit erhältlich sind.
Vorboten nicht von ungefähr auch eines glücklicheren, wahrhaftigeren Lebens in der Südsee, das sich Gauguin in jenen Jahren der Bildentstehung so sehr erhoffte. Ende 1888 folgte er van Gogh nach Arles in das mediterrane Licht Südfrankreichs. Doch schon bald zerbrach die Freundschaft der Maler in einem existenziellen Streit, in dessen Folge sich van Gogh das Ohr abschnitt. Fluchtartig kehrte Gauguin nach Nordfrankreich zurück, arbeitete wieder in der Bretagne, um im April 1891 nach Tahiti in das vermeintliche Paradies auf Erden aufzubrechen. Zu seiner grossen Enttäuschung sah er sich dort jedoch Armut, Krankheit und Unterdrückung durch die weisse Oberschicht gegenüber. Bewegte Zeiten also, in denen das Früchtestillleben der Langmatt entstand, das so gar nichts von diesen existenziellen Spannungen berichtet. Als hätte er einen Knopf gedrückt, um sein wildbewegtes Leben abzustellen, konzentrierte sich Gauguin vollkommen auf seine künstlerischen Fragestellungen. Ein vergleichbares Stillleben von Paul Cézanne hatte er in die Bretagne mitgenommen, um mit dem Ruf «Machen wir also einen Cézanne!» dem verehrten Künstlerkollegen zu folgen. Tatsächlich gibt es in der Bildanlage – beispielsweise in der Position und Struktur des weissen Tuches – Übereinstimmungen, doch das Bild Gauguins unterscheidet sich in der auffälligen Flächenhaftigkeit der Früchte drinnen und der Bäume, Büsche und Dächer draussen deutlich von Cézanne. Die bewusste Abkehr von der äusseren Wirklichkeit, das Glühen der Farben und die abstrahierenden Tendenzen kennzeichnen auch Gauguins spätere, in der Südsee entstandenen Bilder, die unter allen Umständen von einem Paradies erzählen wollen, auch wenn sich unübersehbar Melancholie über die Motive legt. Vielleicht ist die schwanenhafte Gans bereits eine leise Vorahnung.
Markus Stegmann in: «Herzkammer», Museum Langmatt 2020