Paul Cézanne, Das Meer bei L'Estaque, um 1883Zurück

Paul Cézanne
Das Meer bei L'Estaque
Um 1883

Öl auf Leinwand
37 x 46,5 cm
Museum Langmatt, Baden
Inv.-Nr. 120

 

Ein weites, blaues Meer ragt wie eine massive Wand ungewöhnlich steil empor und lässt nicht allzu viel vom Himmel frei. Die enorme Wasserfläche mäandert zwischen kühlen und warmen Blautönen und zergliedert sich in eine Vielzahl lebendiger Pinselstriche. Dächer und Wände von Häusern sind als markante Flächen wiedergegeben und verzichten auf Detailbezeichnungen. Diese auffällige Abstraktion verleiht ihnen ein würfelartiges, kubisches Eigenleben. Erst 25 Jahre später sollte der Kubismus die Zerlegung der Objekte in flächige Facetten aufgreifen, was die visionäre Kraft Cézannes einmal mehr eindrucksvoll unterstreicht. Locker den Hang belegend, zwischen Gärten, Buschwerk und vereinzelte Bäumen eingebettet, treten die Flächen miteinander in spannungsvolle Dialoge. Wenn wir den Bewegungen unserer Augen folgen, springen sie von Dach zu Dach, von Wand zu Wand, gleiten an den Kanten entlang, verlieren sich im frischen Grün der Natur, tasten rhythmisierte Farbbündel ab, die auf Gartenmauern, Wege oder kleine Anbauflächen hinweisen, ohne diese näher zu beschreiben. Bemerkenswerte Komplementärkontraste grüner und roter Farbwerte verstärken das energetische Bewegungsverhalten der lockeren Bebauung, unterstützt von auffälligen Helldunkel-Kontrasten.

Innerhalb des Bildgeschehens kommt dem grossen, auffällig exponierten Schornstein unübersehbares Gewicht zu. Auch in anderen, vergleichbaren Ansichten Cézannes von L’Estaque ist der Schornstein sichtbar, der auf die Industrialisierung des Ortes deutet. Cézanne hat die Veränderungen in der Landschaft aufmerksam verfolgt, da er über viele Jahrzehnte immer wieder längere Zeit in L’Estaque zubrachte. Interessant ist der Umgang des Künstlers mit diesem Zeichen der Industrialisierung. Ähnlich wie Monet enthält er sich einer Wertung. Der Schornstein zählt für Cézanne zum gegebenen Bestand seiner Darstellung. Die auffällige Form, die so ganz im Gegensatz zu den kleinteiligen Häusern steht, muss dem Publikum seinerzeit irritierend ins Auge gestochen sein. Aus heutiger Sicht wirken diese Ziegelsteinschlöte beinahe romantisch als Zeitzeugen einer bereits wieder verschwundenen Phase der Industrialisierung. In unserer landschaftlichen Silhouette heute sind wir ganz andere Gebilde gewohnt, erst recht wenn wir an Wind- oder Kernkraft denken.

L’Estaque war seinerzeit ein kleines Fischerdorf vor den Toren von Marseille. Seit seinen Jugendjahren hielt sich Cézanne hier regelmässig auf, da seine Mutter dort ein Ferienhaus besass. Jahre später sollte der kleine Ort erneut Kunstgeschichte schreiben: Nachdem Georges Braque 1907 die grosse Gedächtnisausstellung zu Ehren von Paul Cézanne in Paris gesehen hatte, folgte er 1908 den Spuren des Künstlers und ging nach L’Estaque, wo er sein bahnbrechendes Bild Häuser in L’Estaque (1908, Kunstmuseum Bern) malte, das dem Kubismus seinen Namen gab: Als das Bild kurze Zeit später bei Daniel-Henry Kahnweiler in Paris gezeigt wurde – zuvor abgelehnt vom Salon d’Automne – sprach der Kritiker Louis Vauxcelles mehrfach abwertend von «Kuben». Braque konzentriert sich auf die Auflösung der Häuser in mächtige Quader und verzichtet im Unterschied zu Cézanne auf die Darstellung des Meeres.

Markus Stegmann in: «Herzkammer», Museum Langmatt 2020