Odilon Redon
Fischerboote, Erinnerung an Venedig
Um 1908
Öl auf Holz
40 x 73,5 cm
Museum Langmatt, Baden
Inv.-Nr. 177
Zwischen Pechschwarz und Dunkelgrün schwankt die Palette der Lagune, zwischen blühendem Violett und zuckrigem Hellblau jene des endlosen Himmels, der mehr als zwei Drittel des Bildes einnimmt. Am dunklen Horizont leuchtet als kleine, funkelnde Perlen intensives Orange und signalisiert Gebäude auf fernen Inseln im Sonnenlicht. Wer sich ein wenig Zeit für dieses Bild nimmt und in die überaus reiche Atmosphäre der Elemente Luft und Wasser eintaucht, wer Stück für Stück mit den Augen die Bildfläche abtastet, von Farbton zu Farbton, von Pinselstrich zu Pinselstrich, wird eine erstaunliche Vielfalt an Sinneseindrücken aufnehmen: Hier klart der Himmel heiter auf, Sonne bricht hindurch, fährt bis hinab ins Wasser der Lagune, dort verdichten sich graue Schleier, und Regen schiebt sich als trüber Vorhang über das vielfach hinterleuchtete Firmament. Mit den Augen nah über das Wasser gleitend, steigen plötzlich Gerüche von Salz und Fisch, Algen und dem Teer der Holzboote auf. Wie ein Geisterschiff zieht das Fischerboot derweil mit leuchtenden Segeln lautlos vorüber. Niemand an Bord sichtbar, vielleicht nach nächtlicher Ausfahrt ermüdet, tagträumend niedergesunken, womöglich schlafend auf den Planken. Und wo befinden wir uns, wo ist unser Standpunkt? Auf einem anderen Boot oder – wie Ruderboote und Holzpfosten am rechten Bildrand andeuten – auf einem der vielen kleinen Eilande in der Lagune von Venedig oder vielleicht nur auf schmaler Sandbank?
Welche der Inseln auch immer im Hintergrund für wenige Momente als orangefarbene Flecken aufflammen und im nächsten von Wolkenschatten wieder verschluckt werden, verliert an Bedeutung angesichts der atemberaubenden Atmosphäre, die Redon wie auf einer weiten Bühne vor uns zu lebendiger Entfaltung bringt. In steter und immer wieder neuer Veränderlichkeit diffundieren wechselseitig Licht und Dunkel, Luft und Wasser. Für Augenblicke überwiegt dieses, für andere jenes der beiden Elemente, ein stetes, unabgeschlossenes Oszillieren, ein lichtvolles Flackern. Das Bild beginnt leise zu sprechen und berichtet von Fischen und Fängen, von Tagen und Nächten, Himmel und Erde, Glück und Unglück. Dieses grossartige Schauspiel auf der Weltbühne zwischen Wolken und Wasser ist eine mächtige Metapher für die «conditio humana», die Umstände des Menschseins. Wie in Redons Gemälde wechseln unablässig Stimmungslagen und Lebensumstände. Nichts ist von Dauer. Die Gleichzeitigkeit von schnellen, momenthaften und langsamen, fast unmerklichen Veränderungen des menschlichen Schicksals ist diesem Bild der Elemente ablesbar. Hinauszufahren in die endlose Weite, um den launischen Fisch zur Sicherung der Existenz zu fangen, der sich heute hier, morgen da und übermorgen nirgendwo zeigt, verstärkt als Sinnbild das metaphorische Schauspiel der Elemente.
Markus Stegmann in: «Herzkammer», Museum Langmatt 2020