Edgar Degas, Weiblicher Akt, um 1885/86Zurück

Edgar Degas
Weiblicher Akt
Um 1885/86

Pastell auf Papier auf Karton
71 x 70 cm
Museum Langmatt, Baden
Inv.-Nr. 136

 

Die Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken, auf undefinierbarem Boden oder Tuch nach hinten gelehnt, erblicken wir wie zufällig und unbeabsichtigt eine junge weibliche Person. Geheimnisvoll bleibt offen, ob der auffällige, gelbe Vorhang verbergen oder enthüllen möchte. Üblicherweise Schutz vor neugierigen Blicken, gibt er hier frei, was womöglich im Verborgenen hätte bleiben wollen. Dieses Setting – wir können uns nicht dagegen wehren – macht uns zu Voyeur*innen eines stillen Moments träumender Versunkenheit. Die entblösste Nacktheit der weiblichen Figur lässt uns in Zeiten der Political Correctness einen Moment ängstlich zusammenzucken. Ist das Bild der zu Recht sensibilisierten Öffentlichkeit noch zuzumuten? So notwendig kritische Überprüfungen und Korrekturen unserer gesellschaftlichen Normen von Zeit zu Zeit sind, so schnell können sie auf der anderen Seite den Blick für historische Zusammenhänge verstellen. Werke der Kunstgeschichte haben mindestens zwei Wirkungsebenen: die ihrer Zeit und die der jeweiligen Gegenwart.

Das Pastell zählt innerhalb des Œuvres von Degas zu den grossen Werken, wenngleich in späteren Jahren vom Künstler überarbeitet. Licht und Schatten modellieren den weiblichen Körper, verleihen ihm seine Plastizität und Spannung, Sinnlichkeit und Intimität. Degas setzt eine erstaunlich breite Farbpalette ein, um die Oberfläche der Haut zu formulieren und darüber hinaus in flirrende Vibration zu versetzen. Schraffuren unterstützen das Funkeln des Licht- und Schattenspiels. Bei näherer Betrachtung überrascht die Kombination von Grau-, Grün- und Rosé- Tönen sowie der hohe Grad an Abstraktion, sekundiert von signifikanter Unschärfe. Wie auch in anderen Arbeiten, nutzt Degas geschickt das Naturell des Pastells, um durch die natürliche Unschärfe der Kreidestriche Körper und Gesicht nicht festmeisseln zu müssen. Im Gegenteil, die Technik erlaubt ihm, die Figur in unbestimmter Schwebe zu halten, sie souverän in ein träumendes Erwachen oder ein tagträumendes Entfliehen aus der Banalität alltäglicher Welt zu überführen. Zwar ist sie physisch anwesend, aber in Wirklichkeit irgendwo ganz weit weg. Das Gesicht neigt sich mit beinahe religiöser Anmutung weit nach oben, als sehne sich die Person eine andere Realität herbei. Diese Geste sehnsuchtsvoller Erwartung könnte aber auch relativ diesseitig gelesen werden und ein nicht näher bezeichnetes Verlangen signalisieren.

Markus Stegmann in: «Herzkammer», Museum Langmatt 2020