Camille Pissarro, Kastanienbäume in Louveciennes, Frühling, 1870Zurück

Camille Pissarro
Kastanienbäume in Louveciennes, Frühling
1870

Öl auf Leinwand
59,5 x 73 cm
Museum Langmatt, Baden
Inv.-Nr. 168

 

Noch ragt das Gerippe der Bäume und Äste weitgehend kahl und knochig in den frühlingshaft lieblichen Himmel, als wollten gleich mehrere Hände auf einmal die erste Wärme fassen, um sich endlich aus der Starre des Winters zu befreien. Dem vibrierenden Gezweig vor dem Himmel entsprechen griffige Schatten am Boden, die, etwas gichtiger und gespenstischer noch als die Hände oben, dem fahlen Grün seine erste Lebensenergie abzugreifen scheinen. Das Gegenlicht der unsichtbaren Sonne verstärkt die Kontraste und dadurch wirkungsvoll die Dramatik der Szene. Angesichts der energetischen Bildanlage wird ein Paar fast übersehen, das mit Schirmchen und Zylinder ein wenig verloren beieinander steht. Zu fast einheitlicher Silhouette verschmolzen, nähern sich die Figuren, im Gegenlicht verstärkt durch das Braungrau ihrer Gewandung, den breiten Baumstämmen an. Aus der Ferne könnte man sie fast als Baumstumpf betrachten.

Der Ort ist für das Verständnis des Bildes weniger wichtig, als es scheint. Louveciennes, eine Kleinstadt westlich von Paris, war während der Jahre der Entstehung des Bildes das Domizil von Pissarro. Der Park mit seinem stolzen Bestand an alten Kastanienbäumen bot dem Künstler verschiedentlich bevorzugte Motive. Aber wie so oft im Impressionismus liegt der Kern des Bildes nicht in der topografischen Wiedererkennbarkeit, sondern in der freiheitsliebenden Verselbständigung der malerischen Mittel. Das Motiv – hier der Park mit seinen Kastanien – war gewissermassen «Anlass», um an einem neuen Begriff der Malerei zu arbeiten, seinerzeit allerdings vom Publikum und selbst der Fachwelt völlig unverstanden. Was Pissarro in diesem Bild erprobt, ist nichts anderes als ein Ausloten der Möglichkeiten, mit den Wirkungen des (Gegen-)Lichts eine vibrierende, das gesamte Format überziehende, flackernde Bewegung auszulösen. Das heftige Züngeln der Äste hinterfängt ein feinteiliges Flirren aus Blattgrün und ersten Blüten im Hintergrund. Punktuell schimmern Gebäude sanft hindurch. Ein durchgehender Zaun hält das vielfarbige Funkeln zurück und wölbt sich wie die Horizontlinie einer kleinen, grossen Welt. Zarte Rosé-, Rot- und Grüntöne steigern sich nach den physikalischen Gesetzen des Komplementärkontrasts in ihrer Wirkung und züngeln als kleinräumige Bewegung. Frühling also motivisch im Bild und metaphorisch als Aufbruch der Malerei. Ein Gewitter lässt sich am Himmel dieses frühlingshaften Tags kaum erkennen, aber im braun-grauen Flackern des Geästs und seiner Schatten ist es im übertragenen Sinn als heftiges Zucken in vollem Gang. Das kahle Gezweig schüttelt nicht nur die Bildfläche kräftig durch, sondern auch und vor allem die Sehgewohnheiten jener Zeit.

Markus Stegmann in: «Herzkammer», Museum Langmatt 2020