Camille Pissarro, Die Erbsenernte, Eragny, 1893Zurück

Camille Pissarro
Die Erbsenernte, Eragny
1893

Öl auf Leinwand
46,2 × 55,3 cm
Museum Langmatt, Baden
Inv.-Nr. 170

 

Wenn wir Käfer wären im weiten Erbsenfeld Camille Pissarros, würde uns das Pflanzengrün wie plüschige Flocken um die Ohren schwirren. Blätter, Stängel, Erbsen, Schoten, Unkraut, Stöckchen, Steinchen, aber auch andere Käfer, Insekten, Schnecken, kleine Nager und was sonst noch alles erdnah kreucht und fleucht. Ein grüner Dschungel würde uns watteweich umhüllen wie schillernder Schaum, ein Schwarm kleiner Partikel, eine chamäleonhafte, multiple Wolke.

Aus der Ferne betrachtet, der «normalen» Bildansicht, schauen wir auf ein Flirren und Flackern, das sich über dem Erdboden als lockerer Teppich oder fast möchte man sagen, als gegenstandslose, mosaikartige Flut ausbreitet. Als wären Erbsen und alles Grün von rätselhafter Energie durchdrungen. Nichts ist ruhig und beständig, alles ist in Bewegung versetzt, in Aufbruch und Aufruhr, als wären da kein Grünzeug, sondern Schwärme aufgebrachter Insekten, die im letzten Schein der untergehenden Sonne tanzten, als gäbe es kein Morgen. Das Gewusel erfasst aber auch die Gewänder, Gesichter und Hände der sich mühsam abplagenden Frauen, in ungesund gebückter Haltung die Früchte des Feldes sammelnd. Erfasst sind auch die weiter hinten liegenden Felder, Baumreihen, Hügel und Berge, die fast nahtlos in einen vibrierenden, lichtgesättigten Himmel übergehen.

Zur Magie der alles umfassenden, kleinteiligen Bewegung tritt die Wärme des Sonnenlichts hinzu, das den Frauen bereits lange Schatten zeichnet. Mag sein, dass das nahende Ende des Tages ihnen nochmals letzte Kräfte verleiht. Die gelblichen Valeurs lassen den Feierabend ahnen, der sich in der Person links abzeichnet, die ihren Korb gefüllt hat und offensichtlich gehen möchte. Zurück bleiben Käfer und Insekten, die – entsprechend ihren Lebensgewohnheiten – nicht nachlassen werden, eifrig das Feld zu durchkämmen, verstärkt von weiteren Krabblern des nahen Abends und abermals weiteren der langsam einkehrenden Nacht.

Markus Stegmann in: «Herzkammer», Museum Langmatt 2020