Camille Pissarro, Boulevard Montmartre, Frühling, 1897Zurück

Camille Pissarro
Boulevard Montmartre, Frühling
1897

Öl auf Leinwand
46 × 55,2 cm
Museum Langmatt, Baden
Inv.-Nr. 171

 

Camille Pissarro, Boulevard Montmartre, Frühling, 1897

Was würden wir wohl hören vom Getrappel der Pferde und dem Geratter der Kutschen unten auf dem Pflaster des weitläufigen Boulevards Montmartre in Paris, würden wir uns neben Camille Pissarro in einem der Zimmer des Grand Hotel de Russie befinden, bei geöffnetem Fenster? Von Februar bis April 1897 hat sich der Künstler hier eingerichtet, um nicht weniger als 14 Varianten dieser Ansicht zu malen. Einige davon hängen heute in den grossen Museen der Welt, beispielsweise im Metropolitan Museum of Art, New York. Aber Pissarro war weniger an der Akustik der rasant sich entwickelnden Metropole interessiert – kurz vor dem Einsetzen der Motorisierung – als vielmehr an den permanent wechselnden Lichtverhältnissen. Entsprechend den Tages- und Jahreszeiten, den unterschiedlichen Verläufen von Sonne und Wolken stellt sich die Ansicht des Boulevards in den Bildern trotz weitgehend gleicher Komposition recht verschieden dar. Das Spektrum reicht von tristen, winterlichen Szenen mit kahlem Gezweig in vorwiegend grauer Palette bis hin zu frühlingshaften und fast sommerlichen Darstellungen mit einer Fülle leuchtender Farben.

Das Bild in der Sammlung der Langmatt zeigt den Boulevard bei auffälligem Gegenlicht. Trotz weitgehend wolkenverhangenem Himmel bricht eine erstaunliche Sonnenfülle durch die frühlingshaft ausschlagenden Baumkronen und hinterleuchtet lebhaft das zarte Blattgrün. Die Kutschen werfen ihre Schatten vor sich auf das Pflaster und verlängern dadurch ihre Silhouette. Tritt man näher an das Bild heran, lösen sich die gegenständlichen Details fast vollständig auf. Passanten sind wenig mehr als längliche Pinselspuren. Die Köpfe farblich nur knapp abgesetzt. Pferde und Kutschen verschwimmen zu schwarzbraunen Flecken. Und auch von den Details der Gebäude – geschweige denn der Bäume – bleibt nicht viel mehr als flirrend aufgetupfte Pinselstriche. Wenngleich aus der Ferne betrachtet die ausgeprägte Zentralperspektive des Bildes einen beträchtlichen räumlichen Sog entfaltet, geraten aus der Nähe alle Akteure in erstaunliche Auflösung. Es scheint, als nage das allgegenwärtige Licht an ihrer physischen Substanz und lasse sie erodieren. Unzählige kleine Pinselstriche entmaterialisieren die Motive und versetzen sie in vibrierende Bewegung.

Wenn wir uns eingehend auf Farbe, Licht und das Flackern des Pinselduktus einlassen, dringt das vielfältig und permanent sich verändernde grossstädtische Geschehen als fliessendes Gewebe in uns ein. Dabei ist unerheblich, ob inhaltlich Pferd, Passanten oder Details von Bäumen oder Hausdächern gemeint sind. Die Motive treten hinter ihrem Eindruck zurück, lösen sich auf, verschwinden, werden beinahe bedeutungslos. Was Pissarro in diesem grossartigen, geradezu archetypisch impressionistischen Bild zeigt, ist die Natur der permanenten Veränderung und das Verschwinden der Dinge hinter Farbe und Pinselduktus. Die Grossstadt als inhaltliche Kulisse unterstützt das Veränderliche durch ihre rastlose Unruhe. Letztlich zeigt dieses Bild – exemplarisch für andere Werke des Impressionismus – ein magisches Paradox: den Augenblick, der sich im Bild in «Ewigkeit» verwandelt.

Markus Stegmann in: «Herzkammer», Museum Langmatt 2020