Alfred Sisley, Die Kirche von Moret, 1893Zurück

Alfred Sisley
Die Kirche von Moret
1893

Öl auf Leinwand
81 x 65 cm
Museum Langmatt, Baden
Inv.-Nr. 200

 

Welche Farbe hat Stein? Ganz normaler Stein, wie er seit jeher für Kirchen verbaut wurde? Etwas zwischen mehrheitlich Grau und Beige kommt uns in den Sinn. Auf welche Seite dieses Spektrums auch immer ausschlagend, so oder so ist dieser Farbwert unspektakulär und von bemerkenswerter Bescheidenheit. So auffällig das Bauwerk auch sein mag, das der Stein zuwege brachte, so überragend dessen architekturhistorische Bedeutung, der Stein hält sich im Allgemeinen auffällig unauffällig im Hintergrund.

Welche Farbe hat der Stein der Kirche von Moret im Bild von Alfred Sisley? Wenngleich ein heller, violetter Schimmer vorherrscht, fächert sich bereits auf den ersten Blick nahezu das gesamte Farbenspektrum auf. Warme und kühle Valeurs, Primär- und Sekundärfarben, «reine» und «schmutzige» Werte, helle und dunkle, laute und leise, lebhafte und müde: Alfred Sisley spannt einen subtilen Bogen, der nicht nur den Farbkreisumschreitet, sondern auch ein ganz unterschiedliches Energiespektrum vor Augen führt. Aber es ist nicht eine laute und spektakuläre Feier der Farbe, die der Künstler einige Jahre vor seinem Tod in diesem Bild zum Ausdruck kommen lässt, sondern eher stille Bewunderung. Er lässt fast alle Farben des Regenbogens auf der Fassade der Kirche leise glimmen, sodass diese zum Träger eines fein gewobenen, vielfältigen Ausdrucks wird.

Ursache für das multiple Farbenspiel ist das natürliche Licht, das Alfred Sisley mit aussergewöhnlicher Aufmerksamkeit auf dem Stein vor Ort abliest und in sein Bild transformiert. Nicht weniger als zwölf Fassungen dieses Motivs von stets demselben Standort aus hat der Künstler geschaffen, immer auf der Suche nach der unfasslichen Veränderlichkeit des Lichts, das sich in der Vielfalt der Farbe auf dem Kirchenstein zeigt. Farbe und Licht zehren aber auch an Festigkeit und Tektonik der Architektur, lösen hier und da die klaren Strukturen auf. Unterstützt vom sichtbaren Pinselduktus entsteht eine räumliche wie gegenständliche Unschärfe, die das beständige, leise Flackern der Farben massgeblich unterstützt. Die Kirche bleibt Kirche, allerdings wurde sie – wie die typischen Motive des Impressionismus – zur Projektionsfläche von Licht und Bewegung. Gleichzeitig verweist die fortgeschrittene Auflösung der Materie auf die transzendenten Eigenschaften gotischer Kirchen, für die das Licht eine so zentrale Rolle spielt.

Markus Stegmann in: «Herzkammer», Museum Langmatt 2020